Auszüge


NDLA- Norddeutsche Literatur Agentur

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    Auszüge und Kurzgeschichten

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Neu in unserem Autorenkreis – Neu in unserem Autorenkreis
Kurzgeschichte
von Thomas Baumgarten – Wilhelmshaven

Männereitelkeit und die Folgen

Schlaftrunken stand ich letzte Woche mit Derrick-Augen vor meinen
Flöddörlook-Spiegel von Ikea (gepresste und folierte Spanplatte mit
handgebissenen Carerra-Marmor-Applikationen) und erblickte eine Wampe die
einem Waschbrettbauch nicht besonders ähnlich sah.

Mit dieser Birnenfigur (schlanke Schultern-breite Hüften) wird mir am Strand
nicht hinterhergepfiffen sondern ich werde ausgepfiffen und riskiere einen
Platzverweis. Noch schlimmer – ich will aus dem Wasser raus . . . und
Greenpeace zieht mich immer wieder rein. Übermotorisierte Schlauchboote,
deren Fahrer einen Antje-Walrossbart und eine 80er Jahre Dieter Bohlen
Vokuhila-Frisur (vorne kurz und hinten lang) tragen, umkreisen meinen Körper
und Rufe gellen über das Wasser „SAVE THE WALES“

Ich hoffe inständig, daß kein fernöstlicher Sushi-Junkie bereits mit seiner
Harpune auf mich zielt.

Was tun wenns brennt??? OK-noch ein wenig mehr Sport. Ich fasse den
Entschluß in unserem städtischen Freibad eine Woche Frühschwimmen zu gehen.

Heute morgen war ich Punkt sieben Uhr da und kaufte mir eine Wochenkarte für
schlappe 6, – EUR.

Dafür bekam ich dann einen Anteil in der Herrenumkleidekabine, in herrlichen
siebziger Jahre Farben – ein wohnliches (jawoll-meine Großmutter hat diese
Farbe geliebt) dunkles Waldmeistergrün, pfiffige orange Farbtupfer und das
Ganze geschmacklich abgerundet durch ein freches Hornhautumbra.

Nachdem ich mich in meine Puma-Schwimmshorts gezwängt habe suche ich den Weg
zum Wasser, verirre mich und lande versehentlich mit einem Blick in der
Damenumkleidekabine. Zu Glück hat mich keine® bemerkt. Ich murmelte mit der
Hand vor Augen „Hüüülfe-ich glaube ich werde blind“ – auch diese Fraktion
hätte Greenpeace nicht mehr aus dem Wasser gelassen…

Jaaa-ich habe ihn gefunden, den Ausschwimmkanal. Also-gleich Vollgas los und
erstmal eine Runde gekrault. Nach ca. 30. Sec. finde ich mit in einer
Wassersportgymnastikgruppe wieder, ich bin nicht rechtzeitig links
abgebogen.

Nach einem freundlichen „Naaaa junger Mann, wollen wir auch was für die
Figur tun“??????!!!!! entferne ich mich zügig mit den Worten. „Ich WILL, sie
MÜSSEN“. An diesem Ort werde ich keine neuen Freunde finden – außerdem bin
ich hier auch der absolute Youngster mit meinen 34 Jahren…

Eine eingefleischte Gemeinschaft diese Frühschwimmer, „Guten Morgen Frau
Schulz, Hallo Herr Stratköter, Mahlzeit Familie Feinbein – Sie sind heute
aber spät dran. Herr Schmidt, wieviel Meter schwimmen Sie denn heute? – „bis
nach Helgoland“ – muuuuuuuuuuuuuaaaaaaaaaarrrrrrr – das Pointenpotential ist
hier auch nicht gerade hoch.

Gerade noch der Hecht im Karpfenteich, der einsame Wolf unter den Grauen
Walen freue ich mich, daß ich noch ein paar Jahre habe, bis ich die diesem
Kollektiv aufgenommen werden kann und mich hier nicht jeder grüsst,
erschallt ein lautes: „hey, hey hey T. was machst Du den hier?????“

Mein alter Bekannter bekommt die Antwort: „Duuuuuuuuuuuuuuuuuuu ich such
híer Erdbeeren, aber ich gehe gleich wieder – zu viele Leute hier und Beeren
sind scheu – es sind keine zu sehen… Immer diese blöden Fragen – schiebt
man sein Auto auf den Straßenrand kommt jeder vorbei und fragt: „Haben sie
eine Panne?“ Nööööööööööööööööööööööö-die Spritpreise sind sooooo hoch, da
schieb ich doch lieber… aber das ist ja noch ein anderes Thema.

Ich muss schon sagen, ältere Herrschaften bewegen sich im Gegensatz zum
Supermarkt und beim Autofahren beim Schwimmen recht schnell . . . 2
Siebzigjährige überholten mich rechts ohne mit der Wimper zu zucken, aber
ich sage mir die machen das jeden Tag und haben natürlich viel mehr Übung –
der eine scheint kriegsversehrt zu sein und sieht aus wie Käpt’n Ahab –
Glausauge und Holzbein… womit wir wieder bei den Walen und Seekühen sind
die ich beim Rückenschwimmen anrempel.

„hihi junger Mann“ – lächelte die ältere Dame im leuchtendroten Baywatch
Badeanzug, „sollten sie nicht was in ihrem Alter anschwimmen???“
„Entschuldigen Sie bitte – das war auch keine Absicht“ – „ich dachte nur sie
sind die Wendeboje“.

Die Moral von der Geschicht – alte Fregatten machen eine große Bugwelle und
sind auch im Wasser schnell „zu Fuß“.

Nach diesem klitzekleinen Vorfall verließ ich das große Becken und begab
mich mit langezogenen Ohren zum Ausschwimmkanal. In Zukunft schwöre ich
trotz meiner Morgenmuffeligkeit feinfühliger zu sein…

ENDE

Neu in unserem Autorenkreis – Neu in unserem Autorenkreis
TIME OUT
eine Fiktion von Dietmar Kröber – Marienhafe

Im Namen des Gesetzes – ich verurteile Sie zu lebenslänglichem Haftaufenthalt auf der Insel Trash. Es schoss mir wie ein Blitz durch die Glieder, das heißt im Klartext: ES GİBT KEİN ZURÜCK !! Diese Insel ist berüchtigt für ihre absolut unmenschliche Behandlung den Strafgefangenen gegenüber. Dort sollen schon Gefangene zu Tode geprügelt worden sein. Sie werden wie Tiere behandelt. Letztendlich gibt es kein Entkommen von dieser Insel, auf der ich in absehbarer Zeit sein werde! Ich hatte in der letzten Woche noch einen Bericht in den Medien gelesen, der die harte Gangart auf dieser Insel zeigte. Irgendwie müsste ich mich befreien und flüchten. Wenn die richtige Zeit gekommen ist, werde ich es versuchen!

Schon am nächsten Tag sperrt man ich in ein Gefängnis, das in der Nähe der Grenze liegt. Bis der nächste Transport zur Insel vollständig ist, wird mir gesagt. Scheinbar werden nicht alle, oder nur die Fertigen, zur Insel gebracht. Aber eigentlich gehöre ich nicht zu den Fertigen.

Ich liege in der Zelle und lasse meinen Gedanken freien Lauf. Früher habe ich immer von einer Insel geträumt, wie Robinson Crusoe. Alleine auf einer Insel, und frei von dem Zivilisationsmüll. Leben, so wie ich es immer wollte. Einfach, und jeden Tag ohne Stress. Das wär’s.

Aber so eine Insel wie diese?

Schon meine Jugend, und auch meine spätere Eingliederung in die Zivilisation, versprachen mir nichts Gutes. Warum nur immer ich? Mit diesem Gedanken schlafe ich fest ein. Früh morgens werde ich um 06.00 Uhr unsanft durch die Gefängnisglocke geweckt, die mich ohne Erbarmen in die Realität zurückholt.

„Raustreten zum Frühstück“ schreit irgendeiner der Wächter.

Dieses Gefängnis ist kein alltägliches Gefängnis. Es wird in Eigenregie, von einzelnen Gefangenen mit Unterstützung der Wärter, geführt. Das sollte ich noch schmerzlich zu spüren bekommen.

Wir treten raus und werden von Mitgefangenen, die sich in besonderer Weise – eben positiv gegenüber der Gefängnisstruktur – gezeigt haben, geleitet. Von Inhaftierten, die sich bei den Wärtern eingeschleimt haben. Sie haben das Sagen. Ihnen sind die Gefangenen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Für mich heißt das, mich erst mal zurückhalten und weiter schauen. Denn in absehbarer Zeit werde ich – so oder so – auf diese verdammte Gefängnisinsel kommen. Kein Trost für mich, aber wahr.

„He – warum bist du hier?“ Ich schaue mich um, und sehe einen ca. 30 jährigen Gefangenen, der in der Zelle neben mir sitzt.

„Eigentlich bin ich unschuldig“, erwidere ich.

„Na ja, das sagen so ziemlich alle hier. Wie heißt du?“

„Peter“ – erwidere ich – „und du“.

„Robert, du kannst mich Bob nennen“. Er lächelt mich an, und zeigt mir den Weg zum Frühstücksraum.

Das Frühstück sieht aus wie schon mal durchgekaut. Auch der erste zaghafte Versuch, etwas von diesem Gemisch in mich hineinzuzwängen, läßt meinen Magen bis an das Limit rebellieren.

„Daran wirst du dich gewöhnen müssen“ sagte Bob.

„Das glaube ich nicht, ich werde in absehbarer Zeit auf die Insel gebracht.“

„Um so mehr freue dich über das Essen. Dort auf der Insel – so hört man – soll das Essen, erst nachdem es

vergammelt ist, den Gefangenen übergeben werden.“

Soviel von dem noch zu erwartenden Besuch auf der Insel.

„Warum bist du hier?“ frage ich Bob aus einfacher Neugierde.

„Ja, ich habe meinen Gruppenleiter im Förderungswerk an einem Mast aufgehangen. Ich denke, der hatte das verdient. Leider war die Jury, die mich verurteilt hat, anderer Meinung. Ich muss für 30 Jahre hier bleiben. Es gibt keine Entlassung vorzeitig. Mein Problem war, daß der Gruppenleiter ein Verwandter des Vorgesetzten der Jury gewesen ist. Mein Pech. Leider wurde die Verhandlung recht einseitig geführt. Mit Einspruch oder so hatte ich keine Chance.“

„Und was führt dich hierher?“ – fragt er mit einem leichten Lächeln zu mir rüber.

„Ich war zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. Leider bin ich in das Räderwerk einer Intrige geraten. Ich stand dem Lover meiner Frau im Weg und der hatte verdammt gute Beziehungen zur Unterwelt. Er besitzt eines der größten Softwareunternehmen. Alles hat er wunderbar gedreht. Und so war ich am Ende der Schuldige, der einen Softwareboss umgebracht haben soll. Die Beweislage wurde so perfekt zusammengestellt, daß es für mich keine Chance gab. Es wurden, bis hin zu meinem Rechtsanwalt, eine Menge Leute bestochen, damit ich den beiden nicht mehr im Weg stand.

Zu allem Überfluss haben sie auch mein kleines Hightech Unternehmen mit übernommen. Vielleicht war das auch der entscheidende Punkt. Denn ich machte eine Erfindung, die vieles revolutionieren wird. Eigentlich möchte ich das alles vergessen. Aber es gibt für mich eine Gerechtigkeit, die über den Dingen steht. Und das versprech‘ ich dir, ich werde mich rächen.“

Mit diesen Worten verlassen wir den Essensraum. Das Gefängnis könnte ein bißchen Farbe vertragen, denke ich so auf dem Weg in die Zelle.

Bob erklärt mir den Tagesablauf, und warnt mich gleichzeitig vor einigen Gefangenen und Wärtern.

„Mit den Wärtern kommt man eigentlich nur einmal die Woche in Kontakt. Aber dann sehr heftig. Nur von der Unterhausgang im unteren Geschoss, von den Jungs mußt du dich fern halten. Wenn sie dich nicht so oder so aufsuchen werden. Weil – wie du sicher schon bemerkt hast, gibt es hier keine Frauen – und du bist der perfekte Ersatz. Sie stehen voll auf männlichen Charme,“ – lacht Bob. Der Aufenthalt hier wird mir immer sympathischer.

Ich überlege, ob es nicht sinnvoll ist, hier einfach auszubrechen. Nur – eigentlich bin ich ja bloß ein Computer-spezialist, und habe von Ausbruch, und sonstigen krummen Sachen, keine Ahnung.

Es ist so gegen 17.00 Uhr, als Bob zu mir in die Zelle kommt.

„Hey, ich habe gehört, daß du Besuch bekommst,“

„Von wem?“ frage ich .

„Von wem wohl – von der Unterhausgang.“

„Wie kann ich mich dagegen schützen.“

„Wenn du Credits hast, dann kann ich dir einen Bodyguard besorgen.“

„Ja, die hatte ich mal in meiner Freiheit, so wie ich sie noch in Erinnerung habe. Nur jetzt habe ich leider nichts außer einer Menge Probleme und die helfen mir nicht weiter.“

„Eine Möglichkeit gibt es noch.“ Bob wirft mir diesen Satz mit einem düsteren Gesicht rüber.

„Na, und die wäre – und? Mensch lass mich nicht dumm sterben“ – rede ich auf Bob ein. „Krankenstation.“

„Was heißt Krankenstation?“

„Na, du musst dich mit einer Krankheit, oder einer Verletzung, krank melden.“

„Wie du siehst, bin ich weniger krank – dafür aber in einer scheiß Situation. Und wie sieht das denn so aus?“

„Denk doch mal nach. Eine Infektion hast du nicht. Sonstige Gebrechen auch nicht. Also müssen wir etwas machen, was dich für längere Zeit aus der Schusslinie zieht. Ich denke an, wie ich schon sagte, Gebrechen.“

„Was meinst du mit Gebrechen, Bob? Meinst du allen Ernstes, mir irgendetwas zu brechen? Sonst geht es noch“.

„Sag mir eine andere Möglichkeit?“

„Aber wie soll das denn gehen“ frage ich Bob.

„du legst deinen Arm oder dein Bein zwischen Bett und Stuhl und ich…!“

„Ich glaub’ du tickst nicht richtig. Du kannst mir doch nicht so einfach irgendwas brechen!“

„Ich glaub’ du hast gar keine andere Wahl. Wenn du mal auf deinen Chronometer schaust – wir sind dem Abend sehr nahe.“ In dem Augenblick dreht sich Bob um und will meine Zelle verlassen.

„Verspüre ich Schmerzen?“

„Nein…. natürlich – ja, aber ich werde so vorsichtig sein wie nur eben möglich.“

„Na gut, mach’ es, bevor irgendwelche Arschficker ihre Spielchen mit mir treiben.“

Bob legt meinen Arm zwischen Liege und Stuhl. Ich höre ein dumpfes, hohles Krachen, das dem knacken von morschem Holz sehr nahe kommt.

Ich schlage meine Augen auf und verspüre ein leichtes Ziehen im rechten Arm. Habe ich das alles geträumt? Oder ist das, was ich dachte, passiert? Hat mir Bob den Arm gebrochen? Es sieht so aus, als wäre ich auf der Krankenstation gelandet. Ein Strafgefangener in weißem Kittel schaut mich an und fragt:

“Na – der Unterhausgang entkommen.“

„Woher weißt du das?“

„Ja das passiert öfters, ich kenne das. Nur irgendwann mußt du zurück, und dann? Na ja“ – grinst mich der Mitgefangene an, dreht sich um und verläßt den Raum.

Ich habe mich mit meinem Armbruch, und der Unterkunft , richtig angefreundet, als nach ca. 2 Wochen ein Wärter zu mir kommt und mich anschreit: „Du bist transportbereit – du kommst auf die Insel !“

Echt freundlich denke ich. Das ist der Moment, vor dem ich am meisten Angst hatte. Mit dem was mir hier passieren würde, könnte ich leben. Aber was kommt auf mich zu? Ich werde angewiesen, meine paar Sachen in einen Pappkarton zu legen, und dann dem Wärter zu folgen. Ich verspüre immer noch Schmerzen im Arm.

Draußen steht ein Transportfahrzeug, das schon seine Jahre auf dem Buckel hat – und dennoch 100%ig gepanzert ist. Es sitzen zwei Gefangene in dem Wagen, die das gleiche Schicksal mit mir teilen müssen.

„Schuhe ausziehen und barfuss in das Fahrzeug einsteigen, und Gespräche sind nicht erlaubt, verstanden?“ – schreit mich der Wärter an. Ich nicke ihm zu.

Wir werden direkt auf den Flughafen gefahren. Der Flughafen ist für kleinere Flugzeuge ausgelegt. Der Kapitän überprüft gerade, ob genügend Treibstoff in den Tanks ist. Wie ich später erfahre, soll die Reise mit dem Gleiter 4 Stunden dauern.

Von nun an spüre ich eine Gangart, die mir bis jetzt nicht bekannt war. Wir werden mit einer enormen Brutalität einzeln in Käfige gesperrt. Dabei wird mit dem Schlagstock nachgeholfen, um keine Irritationen aufkommen zu lassen.

Plötzlich sehe ich rechts von mir eine schwarze Verwirbelung, die wie ein

Kreis mitten in diesem Käfig steht. Ich berühre den Kreis.
ENDE des AUSZUGS

Neu in unserem Autorenkreis – Neu in unserem Autorenkreis
Peter Wefer – Hannover
Auszug aus seiner Erzählung „Der Judoka“

Der zwölfjährige Stefan Templer hat seinem Kameraden ein Buch weggenommen. Sein Vater, Peter Templer, befiehlt ihm, das Buch zurückzubringen. Bei der Gelegenheit erzählt Peter Templer seiner Frau, wie er seinerzeit Norbert Arian, seinem Cousin, ein Buch weggenommen hat.

Peter Templer, damals in Stefans Alter, hat seinem Cousin das Buch ‚Judo für Anfänger‘ weggenommen in der Hoffnung, sich gegen die Hänseleien seiner Klassenkameraden wehren zu können. Norbert Arian lädt darauf seinen Vetter während der Ferien zu sich ein, um ihm Judo beizubringen. Norberts Eltern, insbesondere sein Vater, Heinrich Arian, reagieren darauf eher skeptisch: Während ihrer Besuche kennt Peter nichts als Langeweile. Immerhin willigen sie ein.

Während der folgenden Wochen erweist sich Peter als ein gelehriger Schüler. Er gewinnt unter Norberts Kameraden einige Freunde. Freilich stört er sich häufig daran, dass sein Vetter aus seinem Judo-Lehrgang ein recht umfangreiches sportliches Pensum macht. Peter will nur Judo lernen, während sein Vetter ihm erklärt, die Griffe wären verhältnismäßig einfach, sollten aber auf solidem Fundament stehen, womit sich Peter nur schwer abfindet.

Der erste Schultag nach den Ferien gereicht Peter Templer entgegen seinen Befürchtungen zum Triumph: Mehrere Klassenkameraden, die ihn angreifen, werden von ihm erfolgreich abgewehrt, selbst sein Sportlehrer zeigt sich von Peters Judokünsten beeindruckt, und auch vom Schuldirektor wird er in diesen Tagen mehr als einmal mit „Schau an, unser Judomeister!“ begrüßt.

Peter Templer hat seine Erzählung gerade beendet, wie Stefan zusammen mit Jens Kausner, jenem Kameraden, dem das Buch gehört, zurückkommt. Peter erkennt ihn sofort als einen Jungen von Stefan Kausner, einem der Judokameraden seiner Zeit wieder. Natürlich hat Peter nichts dagegen, daß Jens seinem Jungen das Buch schenkt und fortan mit ihm Tischtennis spielt. Zusammen mit seiner Frau beschließt er, die Familie irgendwann zu besuchen.


Inzwischen war es halb fünf. Carola Templer brachte ihrem Mann eine weitere Kanne Kaffee ins Büro. Der sah zum x-ten Mal ungeduldig auf die Uhr.

„Wo bleibt Stefan?“ fragte Peter Templer zunehmend ungeduldig.

„Er wird mit den Nachbarskindern Fußball spielen.“

Peter sah einen Stoß Briefe, der auf seinem Schreibtisch lag, durch. Endlich meinte er resigniert: „Wenn er gekommen ist, kannst du mir ja Bescheid sagen!“

Soeben ging jemand durch den Flur. Carola schaute nach, wer es war.

„Stefan! Das ist schön! Dein Vater hat mit dir zu reden!“

Stefan Templer, ein hochgewachsener Junge von zwölf Jahren, durchgeschwitzt, im blauen Trainingsanzug, kam ins Büro. Sein Vater fragte ihn: „Woher kommt das Buch?“, indem er ein kleines Taschenbuch hoch hielt.

Stefan wurde verlegen. Er antwortete stockend: „Das hat Jens mir – geliehen!“

Peter Templer erwiderte gutmütig: „Stefan! Sag mir die Wahrheit! Ich seh dir an der Nasenspitze an, dass du lügst! Hast du es ihm genommen?“

Stefan antwortete endlich zähneknirschend: „Ja!“

Peter Templer erwiderte mit nötiger väterlicher Strenge: „Du weißt, dass sich so etwas nicht gehört! Nein, Stefan, das dulde ich nicht! Und nun wirst du es ihm zurückbringen! Und zwar unverzüglich!“

Stefan erwiderte: „Aber Jens hat ganz bestimmt nichts dagegen, dass ich es mir – ausgeliehen habe!“

„Und wenn schon – man kann fragen! Du hättest es doch auch nicht so gern, wenn man dir einfach ohne zu fragen ein Buch wegnehmen würde, oder?“

Stefan antwortete wieder zähneknirschend: „Nein!“

„Du bringst es zurück! Wenn er es dir leiht – meinetwegen. Aber ohne zu fragen etwas wegnehmen, das gehört sich nicht!“

Als Stefan das Büro verlassen hatte, kam Carola zurück. Sie fragte ihren Mann: „Nun? Hat es sich geklärt?“

„Sicherlich. Er wird’s zurückbringen!“

Carola meinte zu ihrem Mann: „Jetzt sei nicht zu streng mit ihm. Er ist auch nicht schlimmer als seine Altersgenossen. Im Gegenteil. Auf Stefan lässt in der ganzen Nachbarschaft keiner etwas kommen.“

„Das weiß ich. Und ich hätte auch nichts dagegen, wenn es so bliebe. Erziehung muss sein!“

„Stefan ist nicht schlimmer als andere Kinder! Und überhaupt: Hast du früher nie was mitgehen lassen?“

Peter erwiderte: „Ich – was mitgehen lassen? Meine Eltern hätten mich Mores gelehrt.“

Carola war erleichtert: Das Lachen ihres Mannes signalisierte ihr, dass er sich inzwischen beruhigt hatte.

Peter erzählte lachend: „Habe ich dir eigentlich erzählt, wie ich damals ein Buch von Norbert, meinem Cousin, mitgenommen habe? Glücklicherweise hat meine Mutter nichts davon erfahren, weil er darüber geschwiegen hat. Eine von den vielen Geschichten, die man nie vergisst!“

„Siehst du? Du hast auch nicht immer alles richtig gemacht!“

„Wer hat das schon! Aber wenn meine Eltern das damals erfahren hätten – sie hätten keinen Spaß verstanden! Das sage ich dir. Ich war damals übrigens etwa ein Jahr älter als Stefan!“

„Ich habe auch schon aus einem Kaufhaus einen Lippenstift mitgehen lassen. Meine Klassenkameradinnen trugen alle schon Lippenstift, ich wollte das doch auch mal probieren. Und dann habe ich einen Lippenstift aus dem Warenhaus mitgehen lassen! Nun, ich wurde nicht erwischt. Aber meine Mutter fragte mich, woher ich den hätte! Ich habe behauptet, den hätte eine Freundin mir zum Geburtstag geschenkt! Das hat nie jemand erfahren!“

Nach einer Weile fuhr Carola fort: „Ich bekam nur so wenig Taschengeld. Und ich wollte mich doch auch mal schick machen! Aber dafür hatten meine Eltern kein Verständnis.“

Peter erklärte: „Ich bekam damals gar kein Taschengeld. Meine Eltern sagten mir immer, ich bekäme eh, was ich bräuchte, was wollte ich noch mit Geld!“

„Na, dann ist es aber kein Wunder, dass du geklaut hast!“

„Nur dieses eine mal! Ich habe es ihm weggenommen, während er auf die Toilette gegangen war…

  1. Kapitel

Gerda Arian klopfte an. Norbert antwortete verärgert: „Komm herein! Die Tür ist unverschlossen!“

Gerda betrat Norberts Zimmer.

„Ich wollte dir nur sagen… suchst du etwas?“

Norbert antwortete verärgert, während er seinen Kleiderschrank durchstöberte: „Ich kann mich einfach nicht daran erinnern, wohin ich es gelegt habe!“

„Was suchst du denn?“

„Ach, das Buch, welches ihr mir damals geschenkt habt!“

„Welches Buch?“

„Judo für Anfänger!“

„Das haben wir dir damals, als du anfingst, Judo zu treiben, geschenkt. Wozu brauchst du es denn gerade jetzt?“

„Ich wollte es Jens, einem Klassenkameraden, leihen. Aber ich finde es absolut nicht.“

Und dann fragte Norbert mit einem mal: „Sollte Peter mir sagen können, wohin es gekommen ist? Er hat doch, während er und seine Eltern auf Besuch waren, die ganze Zeit hier gesessen!“

Gerda fragte ihren Jungen konsterniert: „Du willst doch nicht etwa andeuten, daß Peter es genommen hat? Das würde er nie machen! überhaupt: Ein Buch über Judo – ich bitte dich! Karin beklagt sich andauernd darüber, dass der Junge zu wenig Sport treibt. Das ist doch sehr unwahrscheinlich. Aber sieh doch noch einmal gründlich nach! Du hast ja auch keine Ordnung!“

Norbert erwiderte: „Ich weiß genau, daß ich sämtliche Judo-Bücher hier im Regal stehen habe.“

Er zeigte auf die betreffende Stelle. „Und jetzt fehlt es!“

„Aber gleich Peter verdächtigen, das geht doch zu weit!“

„Ich behaupte ja gar nicht, dass er es genommen hat. Möglicherweise weiß er, wohin es gekommen ist! Vielleicht hat er es gelesen, während ich bei euch saß!“

Gerda schüttelte ungläubig den Kopf.

„Peter? Ein Judo-Buch? Das glaubst du doch wohl selbst nicht!“

Norbert antwortete nicht mehr. Er wusste, dass seine Mutter auf ihre Schwester und deren Sohn nichts kommen ließ.

Er dachte jedoch: Aber es wäre doch möglich!

Norbert Arian fand seinen Vetter schlicht langweilig: Wenn er etwas unternehmen wollte, reagierte Peter meist lustlos. Schien die Sonne, dann war es ihm zu warm, standen Wolken am Himmel, dann könnte es ja gleich regnen. So saß Peter Templer, wenn Karin und er auf Besuch waren, meist in Norberts Zimmer und wollte sich mit ihm unterhalten. Aber Norbert hielt sich viel lieber draußen auf. Er ging viel lieber zusammen mit den Nachbarn schwimmen oder Fußball spielen.

Endlich dachte sich Norbert Arian sauer: Mama hat recht: Es ist wirklich unwahrscheinlich, dass Peter mir ein Judo-Buch weggenommen hat! Und dennoch würde ich gern zu ihm fahren und ihn fragen, ob er weiß, was daraus geworden ist!

„Erlaubst du mir, dass ich mal zu ihm fahre und ihn frage?“

Gerda antwortete: „Meinetwegen! Setz dich aufs Fahrrad und fahre zu Templers. Aber du wirst sehen, daß er es nicht weiß. Ich würde an deiner Stelle noch einmal gründlich überlegen, wohin ich es gelegt hätte. Du wirst sehen, da liegt es.“

„Da gibt es nichts zu überlegen! Ich habe, wie ich dir schon sagte, sämtliche Judo-Bücher hier liegen. Und jetzt fehlt mein erstes! Vielleicht hat er es gelesen, während ich nicht da war, und es verlegt! Herrgott, tu bloß nicht so, als wollte ich dem Jungen deiner Schwester ein Schwerverbrechen nachsagen!“

„Norbert, ich habe dir gesagt, was ich meine: Peter interessiert sich absolut nicht für Judo. Er wird es nie in die Hand genommen haben. Aber bitte, wenn du mir nicht glaubst, fahre zu ihm und frage ihn!“

„Genau das werde ich machen!“ erwiderte Norbert.

Er zog sich seinen Trainingsanzug an und verlie0 das Haus. Seine Mutter sah ihm kopfschüttelnd nach. Sie dachte konsterniert: Peter und Judo!

Norbert hatte etwa eine Stunde zu fahren, um Peters Elternhaus zu erreichen.

Karin Templer, Peters Mutter, arbeitete gerade in der Küche, als Norbert kam.

„Ist Peter da?“ fragte er sie.

„Auf seinem Zimmer. Er macht gerade seine Hausaufgaben!“

Darauf ging Norbert Arian.

Peter Templers Zimmer war bescheiden ausgestattet: Ein recht alter ehemaliger Esstisch aus Eichenholz diente ihm als Schreibtisch. Der Stuhl, auf dem Peter jetzt saß, war viel zu klein, so dass er nur sehr mühsam schreiben konnte, zumal der Tisch viel zu hoch war. Aber der Tisch, den er vorher hatte, war schon von Anfang an für den Stuhl viel zu niedrig gewesen. Als seine Mutter ihn vor vierzehn Tagen gefragt hatte, ob er den wieder haben wollte, hatte er abgewinkt.

Jetzt behalf er sich mit einer Anzahl Versandhauskataloge, die er auf den Stuhl gelegt hatte. Aber so war ihm der Stuhl viel zu hoch; außerdem verrutschten sie ständig.

Vor ein paar Wochen wollte ihm ein Klassenkamerad seinen Schreibtisch und den dazu passenden Stuhl für dreißig Mark verkaufen. Peter hätte ihn gern gekauft. Sein Vater hatte ihm jedoch spitz gefragt: „Haste dreißig Mark?“
Auszug ENDE


Die Blütezeit – eine Liebeserklärung
Nordwehen . . .

Die kuschelige Bettwärme liegt seit einer halben Stunde hinter mir. Der Kalender zeigt mir den 29. April 2oo2. Ein sonniger, morgenkühler Frühlingstag. Sonntagmorgen. Irgendeine Verpflichtung treibt mich schon mit der aufgehenden Sonne aus dem Haus. Niemand begegnet mir – kein Mensch läuft mir über den Weg. Einzig die Vögel haben sich schon zum Konzert versammelt. Die Welt um mich herum ist noch ohne Menschen – ohne Lärm. Ein Stück außerhalb des Ortes hält ein Auto auf mich zu. Während es näher kommt denke ich : Nienburger Kennzeichen – die Feriengäste hat es auch nicht mehr in ihren Betten gehalten. Langsam rollt es an mir vorbei, und ein Gesicht im Innern des Wagens wischt an mir vorüber. Dieses Vorüberwischen hat im gleichen Augenblick vier Jahrzehnte meines Lebens mit sich genommen. Exakt genau vierzig Jahre. Damals war es auch am Tage nach Mutters Geburtstag. Es ist mir in die Seele gebrannt. Ich hab es die ganzen Jahre geahnt, und in Momenten des Wissens immer wieder verpackt und in die hinterste Lade verstaut. Plötzlich steht es im Licht – schöner und wertvoller wie zuvor.

Ich bin wieder der halberwachsene Junge von 1962. Kein Kind mehr, und auch noch kein Mann. Ein Jüngling voller Gefühle – wie ein Meer voller Wasser. Genau so ruhig, genau so wild – genau so voll Zusammenhalt und genau so voll innerer Zerrissenheit.

Norderney – seit einem Jahr ist dieser wunderschöne Flecken Nordseesand mein Platz zum Leben. Arbeit hat mich hierher verschlagen. Zufällig, vordergründig. Im Inneren hat die Flucht vor meiner Mutter mich hier landen lassen. Der fürsorglich liebenden, starken und besitzergreifenden Mutter. Ich muß es gestehen – ich hatte genug von der alles beschirmenden Mutterliebe. Bei ihr war es vielleicht die Furcht etwas zu verlieren, was ihr doch ohnedies niemand nehmen konnte. Kinderliebe ohne Fesseln treibt doch viel mehr blühende Zweige.

Ich sitze an der Abbruchkante einer Düne – mein Lieblingsplatz während meiner freien Stunden. Es ist noch nicht viel los im Staatsbad. Die Ostergäste haben die Insel gleich nach dem Fest wieder verlassen – stören nicht die Idylle. Der Wind singt leise im Dünengras, das nimmermüde Meeres – Orchester läßt seine ewigen Melodien erklingen. Ich kann mich jedesmal nur schwer von meinem Platz trennen. In der weiten Runde keines Menschen Seele. Die Möwen schakkern beim Streit um Futter. Der Kiebitz läßt hoch in der Luft sein helles Kiewitt erklingen. Widerstrebend erhebe ich mich und lasse dieses Bild allein. Bis Morgen ihr Lieben, rufe ich ganz laut in den pergamentfarbenen Himmel, und mache mich auf den Weg ins Dorf.

Zweihundertvierzig hungrige Kurgäste wollen abgefertigt werden. Alle weilen als Mitglieder der Knappschaft bei uns im Kurheim. Zweihundertvierzig staubgequälte Bergmannslungen. Die wenigsten von ihnen nutzen die Zeit – unsere Dorfkneipen sind ihnen lieber. Mist – jetzt hab ich in Gedanken den falschen Weg genommen. Na, egal – die hundert Schritte weiter – die Zeit reicht noch leicht. Mit irgend etwas im Kopf beschäftigt drüdel ich an der alten Dünenbake vorbei. Ich bin schon fast auf der anderen Seite, da weht mir ein freundliches Häee hinterher. Hab’ gar nicht gesehen, daß jemand auf den Steinen unter der Bake sitzt. Erschrocken drehe ich mich um – und tauche in eine andere Welt.

Ich sehe ein Mädchengesicht vor mir und habe einen blühenden Garten, voll mit bunten Schmetterlingen, im Bauch. Ich möchte, nein – ich müßte etwas sagen. Doch ich bin stumm wie ein Fisch im Wasser. In meinem Hals sitzt ein Kloß, groß wie der runde Vollmond. Die Gestalt erscheint mir wie eine Märchenfee, wie sie sich vom Stein erhebt und zwei Schritte näher kommt. Wir stehen uns wortlos und ohne Regung gegenüber. Ich kann nur in die Augen sehen – große, blanke, grüne Augen. Tief wie ein Bergsee und warm wie die Sonne, die hinter ihrem Rücken eintaucht in den fernen Horizont. Wieviel Spannen Zeit wir dastehen weiß ich nicht. Mir scheint es eine Ewigkeit. Festen Grund unter den Füßen spüre ich erst wieder, als unsere Lippen sich voneinander trennen. Ich weiß – ich befinde mich auf der guten alten Erde. Aber der Himmel hat sich für mich aufgetan. Hat mein Engel mich den Weg geführt? Ich bin geneigt es zu glauben, denn Edeltraud – so heißen die strahlenden Augen – ist auch nicht an dem Platz, an dem sie eigentlich sein wollte. Wir können beide nicht viel reden – genau genommen gar nichts. Da ist nur Nähe, einander fühlen und streicheln. Die Schmetterlinge in uns wollen nicht zur Ruhe kommen. Die einzigen Worte nach einem endlosen letzten Kuss: Bis morgen Abend. Wir wissen beide – ohne Rede – die gleiche Stelle und die gleiche Zeit.

Ewald EDEN